Zum Thema Autismus existieren zahlreiche Mythen, aus denen sich zahlreiche Vorurteile ableiten. Das liegt unter anderem daran, dass sich die Erkenntnisse aus der Forschung verändert haben. Andererseits gibt es eine gewisse Faszination für Autist*innen in Filmen oder Serien. Die Figuren basieren teiweise auf den Mythen oder überholten wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Ein Problem ist, dass Menschen dazu neigen, ihre Erkenntnisse aus diesen auf einzelne Personen zu übertragen. Autismus ist ein Sprekturm und dieMenschen in diesem ebenso vielfältig, wie die Menschheit es eben ist.
Zudem sind einige verbreitete Informationen schlicht falsch. Vor allem die Annahme, Autist*innen seien gefühlskalt ist faktisch falsch. Sie sind auch nicht empathielos.
Menschen im Autismus Spektrum sind anders, als Menschen, die als neurotypisch gelten. Um die Unterschiede besser verstehen zu können, halte ich es für wichtig und wertvoll, Autistinnen zuzuhören. Entgegen alter Annahmen, ist Autismus nämlich kein seltenes Phänomen.
Bianca Toeps ist Autistin und räumt in ihrem Buch „aber du siehst gar nicht autistisch aus“ mit zahlreichen Vorurteilen auf.
aber du siehst gar nicht autistisch aus
Das besondere am Buch von Bianca Toeps ist, dass sie sowohl aus der persönlichen autistischen Perspektive über Autismus schreibt, als auch einen kritischen Blick auf wissenschaftlcihe Erkenntnisse wirft. Sie erzählt nicht nur von ihren eigenen Erfahrungen, sondern auch von anderen Autist*innen. Wir erfahren auch, wie andere Menschen sie erleben oder mit ihr umgehen.
Mit 220 Seiten ist es kein besonders dickes, aber sehr umfassendes Buch über vielfältige Facetten des Autismus.
Diagnose Autismus
Dem Thema Diagnostik widmet Bianca Toeps ein ausführliches Kapitel. Se beschreibt zunächst ausführlich die Diagnosekriterien nach DSM-5.
Problematisch an den Kriterien ist aus meiner Sicht der Aspekt, dass ein Leidensdruck vorherrschen muss. Das bedeutet, du kannst die Diagnose Autismus nur dann bekommen, wenn du darunter leidest Autis*in zu sein.
Meiner Überzeugung nach ist Autismus keine Störung im Sinne der Diagnosemanuale, sondern eine Variante unseres Menschsein. Du bist neurodivergent oder eben nicht, so wie du dich einem diversen Geschlecht zuordnen kannst. Das bedeutet, falls du Autist*in bist, ohne einen Leidensdruck zu verspüren, ist das aus meiner Sicht sehr erfreulich. Laut dem DSM-5 nicht möglich, da Leidensdruck Teil der Diagnostik ist.
Allerdings muss es auch nicht zwangsläufig diagnostiziert werden, vor allem nicht, wenn du in deinem Leben gut zurecht kommst. Daher ist es vielleicht nicht so schlimm. Probematisch daran ist für mich, das Stigma, welches mit der Diagnose einher geht. Du hast eine Störung und das ist meiner Ansicht nach ein falscher Begriff.
Bianca Toeps stört noch etwas ganz anderes an den Diagnosekriterien. Es gibt laut DSM 5 zwei Diagnosebereiche. Aus dem Bereich A müssen alle drei Kriterien erfüllt sein. Aus dem Bereich B 2 von 4.
Dazu kommen noch die weiteren Bedingungen C bis E:
- C – Die Symptome beginnen in der frühen Kindheit
- D – Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen => Leidensdruck
- E – nicht durch intellektielle Einschränkungen oder Entwicklungsverzögerung erklärbar
Wichtiger Hinweis: In Deutschland ist die Diagnostik nach ICD-11 bindend. Auch hier gibt es eine Diagnose erst nach Leidensdruck, so funktioniert unser System eben.
Sinneswahrnehmung
Ein zentraler Aspekt versteckt sich in Kategorie B, nämlich die sensible Sinneswahrnehmung. Ein zentraler Unterschied auf neurologischer Ebene ist die andere Reizverarbeitung von Autist*innen gegenüber Neuotypischen. Damit lassen sich auch die Unterschiede in der sozialen Interaktion erklären.
Wenn wir uns die Unterschiede in der sozialen Interaktion anschauen, müssten wir eigentlich zu dem Schluss kommen, dass die neurotypische Art zu kommunizieren gestört ist, wenn wir denn unbedingt von Störung sprechen wollen. Das ist nur mein bescheidener Gedanke zu dem Thema. Ich erlebe die Kommunikation von Autist*innen, sofern sie nicht maskieren, also versuchen vermeintlich normal zu wirken, als klarer, direkter und ehrlicher. Das bedeutet nicht, dass Autist*innen nicht lügen könnten oder würden!
Für wen ist das Buch etwas?
Für alle, die sich für das Thema Autismus interessieren, bereit sind, sich kritisch mit wissenschaftlichen Hintergründen auseinander zu setzen und offen sind für die persönliche Perspektive, die Bianca Toeps anbietet.
Es ist vor allem ein Aufklärungsbuch darüber, was Autismus ist und wie vielfältig Menschen im Spektrum sein können. Wenn du dich selbst oder andere besser verstehen möchtest, kann dich das Buch dabei unterstützen. Vielleicht findest du Bianca Toeps Erfahrungen auch inspirierend und kannst daraus etwas für dich mitnehmen.
Tipps gibt Bianca Toeps vor allem den „anderen Menschen“, wie sie besser mit Autist*innen umgehen können. Sie rät zum Beispiel dazu, statt zu fragen, ob ein*e Autist*in etwas schaffen kann, zu fragen:
Wie gehst du damit um, wenn es schwierig wird?
du siehst gar nicht autistisch aus, Seite 175
Der Blick wird auf das Mögliche gelenkt. Vielleicht braucht es eine andere Herangehensweise, als „die Übliche“, wie andere Menschen es machen. Schlicht eine individuelle, die zur Person passt und das hat auch schon gleich weniger damit zu tun, ob jemand Autist*in ist oder nicht. Wir alle brauchen individuelle Herangehensweisen an unsere Ziele, denn wir alle sind verschieden.
Wo sind die Grenzen des Buches?
Es ist kein Selbsthilfebuch in dem Sinne, dass es dir sagt, was du jetzt tun kannst, damit es dir besser geht. Bianca Toeps bietet dir auch keine direkten Übungen an.
Du kannst dich auch nicht selbst mit dem Buch diagnostizieren. Falls du dich allerdings fragst, ob du auch zum Autismus Spektrum gehörst, könnte es hilfreich sein, das Buch zu lesen und dich mit den Diagnosekriterien auseinander zu setzen, um zu entscheiden, ob es für dich sinnvoll sein kann, dich von Fachleuten diagnostizieren zu lassen. Auch wenn Autismus sich durch neurologische Unterschiede beschreiben lässt, ist eine klare neurologische Diagnostik noch nicht möglich. Das hängt mit der Komplexität zusammen, daher ist ein ausführlicher diagnostischer Prozess nötig.
Fazit
Es ist ein wertvolles Buch über Autismus. Ich habe es sehr gerne gelesen, es liest sich leicht und anschaulich. Die Kritik an der Wissenschaft und den Fachleuten ist in meinen Augen berechtigt und wichtig.
Das Buch hat eine klare Botschaft und daher möchte ich Bianca Toeps das letzte Wort überlassen, mit den letzten Zeilen aus dem Nachwort, welche sich an alle Autist*innen richten, aber auch alle anderen sich gerne zu Herzen nehmen dürfen:
Es ist schön, wenn du verstanden wirst, aber nicht immer notwendig. Lebe dein Leben, treffe deine Entscheidungen und mach es für dich selbst. Du bist in Ordnung.
du siehst gar nicht autistisch aus, Seite 220
Selbsthilfebücher Lesechallenge
Ich liebe Lesechallenges, liebe es Listen zu machen. Das besondere an dieser Challenge ist, dass ich die Liste nicht alleine gestalte. Ich nehme Empfehlungen von Fachkolleg*innen und Personen an, die die Bücher für sich selbst gelesen haben.
Schade ich mir nicht, wenn ich dir Bücher empfehle, mit denen du selbst arbeiten kannst?
Nein, es gibt viele Wege mit einem Problem umzugehen. Du könntest mit einer Freundin oder einem Freund darüber sprechen. Du könntest dich an mich oder Kolleg*innen wenden oder dich ganz alleine mit dem Thema befassen. Viele Faktoren spielen dabei eine Rolle, für welchen Weg du dich entscheidet und ein hilfreiches Buch kann bei all diesen Varianten eine gute Ergänzung sein.
Daher finde ich es für mich persönlich eben auch wichtig, zu wissen, welche Bücher es auf dem Markt gibt, die ich je nach Thema und Situation meinen Klient*innen empfehlen kann. In der Systemischen Beratung geht es schließlich vor allem darum, Menschen dabei zu unterstützen, ihre Probleme selbst zu lösen und nicht dauerhaft in der Beratung zu halten.
So ein Buch kann eine weitere Perspektive darstellen. Die Herausforderung ist, das passende zu finden. Dafür trete ich diese Reise an und freue mich auch auf deine Empfehlung.
Hier findest du die Liste, schreib mir gerne deine Empfehlung in die Kommentare oder als Nachricht.
Bisher gelesen:
- Das Kind in dir muss Heimat finden ~ Stefanie Stahl
- Ein Pinguin unter Störchen ~ Silke Lipinski (Hrsg)
- Erzähl dein Leben neu ~ Rebecca Vogels
- du siehst gar nicht autistisch aus ~ Bianca Toeps
aber du siehst gar nicht autistisch aus
Bianca Toeps
Übersetzt aus dem Niederländischen von Ines Wachter
Bianca Toeps, 2022
ISBN: 9789083229805