Matthias
„Ist es zu spät für einen Neuanfang?“
Matthias
Geschieden, zwei Teenie-Töchter, die er unregelmäßig sieht. Beruflich fühlt er sich ausgebrannt. Eine neue Beziehung weckt in ihm das Gefühl, dass es sich für ihn lohnen könnte, sich nochmal neu zu orientieren, aber er weiß nicht so recht wie er das anstellen soll.
Du kennst Matthias noch nicht? Er ist eine fiktive Figur. Lies hier die erste Etappe seiner Kometenreise.
Als ich mich diesmal zum Beratungsgespräch mit Stephanie einloggte, hatte ich kein konkretes Anliegen. Es war gerade alles mal wieder so richtig schwierig. Es fiel mir schwer, morgens aufzustehen. Alles nervte und ich wollte niemanden sehen. Ich hatte sogar überlegt, den Termin abzusagen, aber eine kurzfristige Absage hätte ich zum Teil bezahlen müssen, das wollte ich nicht. Kein schlechter Trick von Stephanie.
Auf ihre Einstiegsfragen hatte ich keine klaren Antworten und wir eierten irgendwie rum, so fühlte es sich an.
Dann fragte Stephanie mich, ob sie ein Experiment mit mir machen dürfe. Mir war alles egal und ich stimmte zu, schlimmer konnte es doch nicht mehr werden. Sie bat mich darum, mich auf die Übung einzulassen, so gut ich konnte. Ich nickte und hörte gespannt zu.
»Mal angenommen«, begann sie, »du würdest nach unserem Gespräch, die Dinge tun, die du heute Abend noch zu erledigen hast. Vielleicht bleibst du noch ein wenig hier sitzen, oder du gehst an den Fernseher, oder du erledigst noch was im Haushalt …«
»Ich müsste noch die Küche machen, aber wahrscheinlich bleibe ich hier sitzen.«
»Okay, du bleibst hier sitzen, was würdest du tun?«
»Ich würde mich ein wenig durchs Netz klicken, nichts konkretes, einfach surfen.«
»Okay, du würdest noch eine Weile durchs Netz surfen und irgendwann würdest du schlafen gehen.«
»Hmm.«
»Irgendwann in der Nacht, während du schläfst, geschieht ein Wunder, Du weißt nicht wann und wie. Das Wunder bewirkt, dass das Problem, wegen dem du heute hier bist, gelöst ist. Du wachst morgen früh auf, ohne zu wissen, dass ein Wunder geschehen ist. Was würdest du tun? Was würdest du fühlen?«
Ich musste lachen. »Das ist zu schön um wahr zu sein.«
»Lass dich einfach mal auf die Geschichte ein, versuche es dir vorzustellen. Wie wäre dein Morgen? Was tust du?«
Ich schloss meine Augen und stellte es mir meinen Tag nach dem Wunder vor. »Ich würde aufstehen.«
»Was wäre anders als sonst?«
»Na, dass ich aufstehe. Also direkt, nicht fünf Wecker brauche und mich immer wieder umdrehe und mir die Decke über den Kopf ziehe.«
»Okay, gut, du stehst auf. Was machst du?«
»Erst mal die Kaffeemaschine an. Vielleicht höre ich Musik dabei … Dann gehe ich duschen.«
»Kaffee, Musik und duschen. Wie fühlst du dich dabei?«
»Ausgeschlafen und gelassen.«
»Gelassen?«
»Ja, mich stresst nicht, dass ich gleich zur Arbeit muss. Es ist in Ordnung. Die Dusche tut mir gut, ich fühle mich wach.«
»Und wenn du aus der Dusche kommst?«
»Wickle ich mich in mein riesiges Handtuch, gehe zurück ins Schlafzimmer und ziehe mich an.«
Wir gingen meine Morgenroutine in allen Details durch. Darüber hatte ich nie nachgedacht. Das, was mir sonst zur Qual wird, weil ich mich dazu zwingen muss, könnte eigentlich richtig schön sein. Die Idee, den Kaffee auf dem Balkon zu trinken, war schön. Keine Ahnung wo die herkam. Das habe ich noch nie gemacht, höchstens mal im Urlaub. Beatrix mag das gerne, Kaffee auf der Terrasse …
»Wer könnte merken, dass ein Wunder geschehen ist?«
»Na ich wohne alleine, also erstmal niemand außer mir. Hmmm, vielleicht Beatrix. Vielleicht würde ich ihr einen Morgengruß schreiben. Das würde sie bestimmt freuen. Vielleicht mit einem Foto von meiner Kaffeetasse auf dem Balkongeländer. Vielleicht trinkt sie auch gerade Kaffee auf ihrer Terrasse. Das wäre doch schön oder?«
»Etwas gemeinsam machen, obwohl ihr so weit entfernt seid, das klingt schön.«
»Ja, sehr schön.«
»Wie würde Beatrix reagieren?«
»Sie würde mir zurückschreiben. Mich vielleicht fragen, ob es mir gut geht. Sie wäre sicher irritiert, ich schreibe ihr nie so früh.«
»Und dann?«
»Würde ich antworten, vielleicht auch kurz anrufen, je nach dem wie viel Zeit ich noch habe. Wahrscheinlich habe ich Zeit, ich bin ja direkt aufgestanden. Hmmm, ob sie Zeit hat? Wir würden vielleicht nur kurz sprechen, aber es wäre schön, ihre Stimme zu hören, ihr einfach kurz Guten Morgen zu sagen und, dass ich sie gern habe.«
»Das klingt schön. Wer könnte noch merken, dass ein Wunder geschehen ist?«
»Meine Kollegin Susanne.«
»Woran würde sie es merken?«
»Erstmal daran, dass ich früh im Büro bin, dann dass ich freundlicher bin. Ich glaube sonst gehen mir die Kollegen eher aus dem Weg.« Es war verflucht unangenehm das auszusprechen, aber es stimmte. Ich fürchte, keiner mag mehr gerne mit mir zusammen arbeiten, weil ich ein oller Muffelkopf bin. Aber was soll ich denn machen?
»Was tust du im Büro?«
»Ich gehe an meinen Schreibtiisch, mache mir einen Plan für den Tag und beginne mit der Arbeit. Irgendwann gehe ich in die Kaffeküche, grüße meine Kollegen an denen ich vorbei gehe. Vielleicht plaudern wir kurz.«
Wieder hielt ich irritiert inne. Wann hatte ich zuletzt mit Kollegen einfach so geplaudert? Wann hatte ich zuletzt das Wort plaudern benutzt? Kommunikation auf der Arbeit beschränkte ich auf das Notwendigste.
Stephanie ging mit mir meinen kompletten Tag bis zum Abend durch, an dem ich mich offenbar auch noch mit Rainer treffen und Spaß haben würde. Was für ein verrückter Tag. Immer wieder fragte sie ganz konkret nach meinen Handlungen, den Reaktionen der anderen und meinen Empfindungen dabei, auch danach wo sie sich im Körper verorten würden.
Es war echt spannend, sich darauf einzulassen.
Dann stellte sie mir eine krasse Frage: »Mal angenommen, du könntest ab und zu einen Wundertag iin deine Woche integrieren. Du würdest einfach mal so tun, als sei das Wunder bereits geschehen, wie wäre das?«
»Schön«, sagte ich und grinste. »Aber doch total unrealistisch.«
»Wäre es das?«
»Ja, weil ich bin einfach so wie ich bin.«
»Wenn du nochmal schaust, was du mir eben alles erzählt hast übers Aufstehen, Kaffeekochen, Musik machen und duschen, dann mit Beatrix reden, später früh auf der Arbeit sein und mit Kollegen reden …«
»Ja?«
»Was hast du mir beschrieben?«
»Was ich alles tun würde.«
»Genau.« Dann wartete sie einfach ab.
Es dauerte eine Weile, bis ich zögerlich sagte: »Du meinst, ich soll diese Dinge einfach mal tun, ohne dass das Wunder wirklich geschehen ist und es so wahr machen?«
»Wäre das möglich?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht nicht alles. Vielleicht nicht dieses einfach aufstehen.«
»Mal angenommen du würdest dich heute Abend ins Bett legen und dir sagen, morgen ist ein Wundertag. Auf einer Skala von 1 bis 10, wie leicht würde dir das Aufstehen fallen?«
»Hmm, vielleicht 6.«
»Ist das ein hoher Wert für dich?«
»Schon, denke heute morgen war es eher eine 2.«
»Wow, das ist ja schon ein großer Unterschied. Was glaubst du, was den Unterschied macht?«
»Hoffnung.«
»Hoffnung?«
»Ja. Wenn nur ein Teil dessen funktioniert, was wir eben gesagt haben, würde es ein guter Tag werden. Wenn die Kollegen freundlich zu mir sind, wäre das Arbeiten viel angenehmer.«
»Warum sollten sie freundlich zu dir sein?«
»Weil ich freundlich bin. Wahrscheinlich sind sie irritiert, aber bestimmt auch freundlich. Das wäre schön.«
»Es wäre schön, wenn ihr freundlich zueinander seid.«
»Ja. Und ich würde mich freuen, meinen Kaffee auf dem Balkon zu trinken, das will ich morgen früh machen. Und Beatrix schreiben. Wenn sie antwortet, rufe ich sie an.«
»Das ist doch mal ein konkreter Plan.«
»Ja.« Ich war überrascht.
Ich habe es ausprobiert mit meinem Wundertag. Ich kam nicht so einfach aus dem Bett, wie ich es nach der Wunderfrage beschrieben habe, aber leichter als sonst. Ich habe mir selbst laut gesagt: »Matthias, heute ist ein Wundertag.« Dann bin ich in die Küche gegangen und habe Kaffe gekocht. Die Musik habe ich vergessen, aber nach der Dusche bin ich auf den Balkon. Beatrix war vielleicht überrascht gewesen …
So ein Wundertag kann ein wunderbarer Anfang sein. Es ist auch anstrengend, deswegen braucht nicht jeder Tag ein Wundertag sein, sagt Stephanie. Bei mir sind jetzt Donnerstage meine Wundertage. Beatrix weiß das und freut sich darauf, dass wir nächsten Donnerstag wieder zusammen Kaffee trinken werden, ich auf meinem Balkon, sie auf ihrer Terrasse. Dabei werden wir ein wenig plaudern.
Matthias ist eine fiktive Figur, er soll dir zeigen, wie eine systemische Beratung aussehen könnte.
Lies hier mehr über ihn und meine anderen Figuren.
Anmerkung
Diese Geschichte soll keineswegs suggerieren, Veränderungen seien einfach oder es gäbe Wunder. Die Wunderfrage ermöglicht, sich vorzustellen, dass Veränderungen tatsächlich möglich sind. Es wird vorstellbar, dass alles auch ganz anders sein könnte und das eigene Handlungen dazu führen können. Diese Umzusetzen und sich auf einen Wundertag einzulassen bleibt eine Herausforderung und ist auch nur eine Möglichkeit nach der Wunderfrage.
Es geht dann weiter nach dem Prinzip, mache mehr von dem, was dir gut tut und für dich nützlich ist.
Die Wunderfrage stammt ursprünglich von Steve de Shazer und gehört zu seinem lösungsorientierten Ansatz.
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