Sandra
„Jetzt bin ich dran!?“
Sandra
Verheiratet, Mutter von zwei Kindern, steht vor einer neuen Jobchance. Die letzte Zeit war geprägt von privaten Herausforderungen, Schwierigkeiten in der Beziehung. Eine Stimme in ihr wird immer lauter: Jetzt will ich mich auch mal um mich kümmern.
Du kennst Sandra noch nicht? Sie ist eine fiktive Figur. Lies hier die erste Etappe ihrer Kometenreise.
Diesmal habe ich gemeinsam mit Lukas an einem Beratungstermin teilgenommen, im Grunde war es sein Termin. „Jetzt arbeite ich wie du“, sagte mein Großer und grinste in die Kamera. Er durfte auf meinem bequemen Schreibtischstuhl sitzen, während ich mir einen Küchenstuhl daneben stellte. So war er im Fokus der Kamera und ich an der Seite noch mit im Bild zu sehen.
„Wie arbeitet deine Mama denn?“, fragte Stephanie und ich staunte, wie schnell die beiden in ein Gespräch fanden. Auch wenn es sich kurz merkwürdig anfühlte, wie sie so über mich sprachen, als wäre ich gar nicht da. Es war auch schön zu hören, wie Lukas mich im Homeoffice wahrnahm, dabei erlebte er es doch eigentlich selten.
„Lukas, wenn wir beide über dich sprechen wollen, was könnte da unser Thema sein?“
„Mein Autismus. Mama sagt, du kannst mir das erklären.“
Stephanie lächelte. „Erklären ist da gar nicht so einfach. Wenn du magst, können wir zwei aber gemeinsam herausfinden, was es für dich bedeutet Autist zu sein.“
Lukas überlegte. „So wie Detektive?“
„Ja, ein bisschen wie Detektive.“
„Finde ich gut, ich mag Detektivgeschichten.“ Lukas erzählte von seinen aktuellen Hörspielen und Stephanie hörte ihm eine Weile zu. Dann fragte sie ihn, was Detektive denn tun würden, um einen Fall zu lösen.
„Sie folgen Spuren, sammeln Beweise, befragen Menschen und fügen alles zusammen“, erklärte Lukas stolz.
„Sehr gut, wenn unser Fall jetzt ist, deinen Autismus zu verstehen, wo könnten wir da anfangen?“
„Wir können den Arzt befragen, oder Mama.“
Zum ersten Mal drehte er sich vom Bildschirm weg und sah mich an. Doch bevor ich antworten konnte, drehte er sich schon wieder weg und sprach weiter. „Der hat auch was aufgeschrieben, vielleicht ist das ein Beweismittel. Mama hat da einen Brief, den kann sie uns zeigen.“
„Gut, dann haben wir ein erstes Beweismittel den Brief und wir können deine Mama befragen. Sie hat mit dem Arzt gesprochen. Das ist vielleicht erstmal einfacher für uns.“
„Bei dem Arzt muss man ewig auf Termine warten. Ist doch so Mama, oder?“
Ich nickte nur und hörte weiter den beiden Detektiven zu.
„Haben wir auch Zeugen, die wir zum Autismus befragen können?“
„Ja, meine Mama, meinen Papa. Vielleicht auch meine Lehrerin. Du kennst sie schon, hat Mama erzählt.“
Diesmal nickte Stephanie und wartete, ob er noch mehr Personen aufzählen würde. „Meine Schwester ist auch eine Zeugin, aber vielleicht noch zu klein für unsere Detektivarbeit.“
„Vielleicht. Ich schreibe sie mal auf die Liste.“
Stephanie hielt ihren Block in die Kamera. „Schau, ich schreibe alle unsere Ideen auf.“ Sie wartete kurz, dann fragte sie: „Was ist denn mit dir? Können wir dich auch befragen?“
„Ich bin doch der Detektiv.“
„Natürlich bist du das.“
„Ich bin kein Opfer!“, schrie Lukas energisch.
„Auf gar keinen Fall bist du ein Opfer. Du bist eine wichtige Person, bei der Klärung, was Autismus für dich bedeutet.“
Lukas schwieg eine Weile.
„Ja das bin ich. Schreib auf: Lukas ist der Autist.“ Dann zögerte er kurz und fragte kleinlaut: „Darf ich dann trotzdem der Detektiv sein, in meinem eigenen Fall?“
„Unbedingt, du bist die allerwichtigste Person.“
„Sehr gut. Dann will ich mit mir anfangen.“
„Gut, dann wollen wir dich mal befragen.“
„Cool.“
„Möchtest du dir die erste Frage stellen?“
„Hmmm. Lukas, wie ist es für dich Autist zu sein? Nein – die Frage ist blöd. So würde sie ein Reporter stellen, kein Detektiv. Lukas, seit wann weißt du, dass du ein Autist bist? Ja, das ist besser.
Dann will ich mal direkt antworten. Seit ich bei diesem Arzt gewesen bin und er mir erklärt hat, dass ich ein Autist bin.
Schreibst du das auf?“
„Ich schreibe alles auf, was du herausfindest. Magst du noch eine Frage stellen?“
„Ja. Wie hat der Arzt das herausgefunden, dass du ein Autist bist?
– Meine Eltern haben Fragebögen ausgefüllt, ganz viele Seiten und er hat mit ihnen geredet, mit mir auch. Und er hat mit mir Tests gemacht, bei den Rätselspielen hatte ich Spaß. Bei dem einen kam raus, dass ich ein ganz schlauer Junge bin. Das hat aber eigentlich nichts mit Autismus zu tun, glaube ich.“
„Das ist ja interessant. Der Arzt hat sich also intensiv mit dir und deinen Eltern beschäftigt und kam zu dem Schluss du bist ein Autist und ein schlauer Junge. Damit wissen wir doch schon mal ganz schön viel über dich.“
„Ja, das stimmt. Nur … also … das mit dem schlauen Jungen, verstehe ich ja. Das mit dem Autismus noch nicht so wirklich“, gab Lukas zu. „Müsste ich das nicht verstehen, wenn ich ein schlauer Junge bin?“
„Das wirst du auch. Wie war denn der Termin bei dem Arzt, als er euch das erklärt hat?“
„Anders als bei dir. Er hat mir Guten Tag gesagt und mir mitgeteilt, dass ich ein schlauer Junge bin. Danach hat er mit Mama und Papa geredet und ich habe irgendwann nicht mehr zugehört.“
„Da ging es um dich und die Erwachsenen haben ohne dich geredet?“
„Ja. Voll gemein.“
„Ja, da hast du Recht.“
Während ich so zuhörte, kam mir das schlechte Gewissen, ich hatte so viele Fragen gehabt. „Es tut mir leid, Lukas.“
Er drehte sich mir zu. „Danke“, sagte er und schaute wieder erwartungsvoll auf den Bildschirm.
Stephanie lächelte mich freundlich an und fragte Lukas weiter, wie viel er denn schon über den Autismus verstanden habe. Nach und nach kamen ein paar Dinge zusammen, die Stephanie mit ihren Worten ergänzte, dass es für Lukas ein Bild ergab.
„Weißt du eigentlich, dass du den anderen Kindern in deiner Klasse gegenüber jetzt im Vorteil bist?“
„Echt?“
„Ja. Es ist so, dass jeder Mensch im Laufe des Lebens immer wieder an den Punkt kommt, herauszufinden, wer er oder sie ist. Da hast du schon mal zwei wichtige Informationen. Du bist ein schlauer Junge und ein Autist. Hast du manchmal in der Schule das Gefühl, anders als die anderen Kinder zu sein?“
Lukas überlegte, dann nickte er.
„Jetzt kannst du dir selbst sagen. Ich bin anders, ich bin Autist. Den anderen Kindern ergeht es auch so, aber ihnen fehlt noch eine Erklärung. Wenn du irgendwann einmal in einer Gruppe mit anderen Autisten und Autistinnen sein solltest, wirst du merken, dass ihr einiges gemeinsam habt, aber auch alle verschieden seid. Auch hier wirst du ‚anders‘ sein.“
„Na klar, ich bin ja Lukas.“
„Genau, ich merke, du bist wirklich ein schlauer Junge. Du bist also zum einen, anders, als die anderen Kinder in deiner Klasse und einige Unterschiede lassen sich dadurch erklären, dass du Autist bist, aber nicht alle. Denn du bist auch genau wie alle anderen ein Individuum. Kennst du das Wort schon?“
Lukas schüttelte den Kopf.
„Du bist einzigartig. Ich bin einzigartig, deine Mama ist einzigartig, dein Papa und deine Schwester auch.“
„Das ist cool. Ich bin ein Indi … Indidum.“ Gemeinsam übten sie das neue Wort.
„Damit sind wir doch irgendwie alle gleich und alle anders. Das finde ich toll. Warum ist es dann wichtig zu wissen, dass ich ein Autist bin?“
„Das ist eine sehr gute Frage. Es kann dir helfen, dich selbst besser kennen zu lernen und zu verstehen. In der Schule zum Beispiel gibt es Dinge, die dich besonders stressen, die anderen Kindern egal sind.“
„Das stimmt, es ist oft so laut. Das ist furchtbar.“
„Und das hängt damit zusammen, dass deine Wahrnehmung ein bisschen anders funktioniert, als bei Kindern, die nicht zum Autismusspektrum gehören.“
„Die sind in einem anderen Club, wo es laut sein darf.“
„Genau. Wollen wir unsere Detektivarbeit mal in die Schule verlegen und schauen, wo es für dich schwierig ist und herausfinden, was du brauchst?“
Ich glaube, ich habe in diesem Termin kaum ein Wort gesagt, einfach nur daneben gesessen und den beiden Detektiven zugehört. Hin und wieder durfte ich eine Frage beantworten. Es hat so gutgetan, zu sehen, wie Lukas sich selbst mit dem Thema befassen durfte und auf seine ganz besondere Art einen Zugang zum Thema Autismus fand. Bei mir entstand zum ersten Mal seit Monaten das Gefühl, dass er sich selbst als etwas Besonderes im positiven Sinne erleben durfte.
Als sich der Termin dem Ende neigte, war Lukas kurz unzufrieden und ich dachte, gleich regt er sich furchtbar auf. Dann durfte er noch einmal zusammen fassen, was die Ermittlungen ergeben haben und entscheiden, in welche Richtungen er selbst weitere Forschungen anstellen möchte.
Sandra ist eine fiktive Figur, sie soll dir zeigen, wie eine systemische Beratung aussehen könnte.
Lies hier mehr über sie und meine anderen Figuren.
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