Was wäre wenn …
es überhaupt nicht außergewöhnlich und schon gar nicht negativ wäre, wenn Menschen Autist*innen oder hochsensibel wären. Wenn ADHS kein Defizit wäre?
Was wäre wenn wir Menschen als neurotypisch und neuroatypisch betrachten, ohne zu sagen, die einen seien „normal“ und die anderen hätten eine Störung oder ein Defizit?
Was wäre, wenn alle Probleme von neuroatypischen Personen, sich dadurch erklären ließen, dass unsere Welt eine neurotypische wäre?
Normalität und Ausnahme
Als ich Anfang der 90er zum ersten Mal von Autismus gehört und angefangen habe darüber zu recherchieren, galt es noch als etwas Außergewöhnliches und Seltenes. Auch ADHS war zu meiner Schulzeit kein Phänomen, das wir alle kannten und häufig diagnostiziert wurde. All das waren Ausnahmen.
Treten die Phänomene heute häufiger auf?
Ich denke, wir sind sensibler geworden für die besonderen Bedürfnisse einzelner Kinder und daher gibt es inzwischen häufiger Diagnosen und auch mehr Unterstützungsmöglichkeiten. Natürlich gehen damit auch viele Diskussionen einher, ob diese Diagnosen auch alle stimmen. Es wird auch auf wissenschaftlicher Seite nach weiteren Erklärungen für Phänomene gesucht, die sich zumindest teilweise genetsich erklären lassen.
Persönlich bin ich davon überzeugt, dass neuroatypische Menschen keine Seltenheit sind. Damit bin ich nicht alleine. Vernea Karl und Eduard Sadžakov (2022) gehen davon aus, dass ca. 50% der Menschen neuroatypisch sind. Dazu zählen Menschen, die eine sensible Wahrnehmung gemeinsam haben, z.B. bei den Diagnosen Autismus, ADHS oder Hochsenibilität.
Trotz aller Sensnibilität gibt es immer noch viele Menschen, die statistich nicht erfasst werden. Es ist zum einen noch immer schwierig eine Diagnose zu erhalten und es braucht eine Motivation, es überhaup zu versuchen. Dazu braucht es einen Leidensdruck, den Wunsch nach einem Erklärungsmodell. Einerseits werden nicht alle Menschen mit ihrer Problematik ernst genommen unf auf der anderen Seite gibt es auch Menschen, die gar kein „Problem“ darin sehen, neuroatypisch zu sein, denen es tatsächlich gelingt ihr Leben so zu gestalten, dass es ihnen gut geht. Dazu braucht es das passende Umfeld, vor allem in der Kindheit und
Normalität
Wenn etwas nicht selten ist, ist es dann noch ein Phänomen? Was ist eigentlich diese Normalität?
Schauen wir uns ein Merkmal wie den IQ an. Es gibt genormte Testverfahren und die Werte lassen sich mathematisch als Normalverteilung darstellen, vielleicht erinnert ihr euch an die Gaußsche Glockenkurve aus dem Matheunterricht. Der Mittelwert liegt bei 100 und diesen erreichen die meisten Menschen. Je höher oder niedriger der Wert, desto weniger Menschen erreichen diesen.
Es ist also vollkommen „normal“ einen IQ-Wert zwischen 85 und 115 zu haben. Ein Wert darunter gilt als außergewöhnlich niedrig, ein Wert darüber als außergewöhnlich hoch. In diesem mittleren Bereich liegen ca. 70% der Menschen. So lässt sich „Normalität“ in der Psychologie statistisch abbilden.
Dies kann man auch mit zahlreichen anderen Merkmalen tun. Einfluss auf die Verteilung hat dabei sowohl die Konstruktion des Testverfahrens, als auch die Auswahl der Stichprobe.
Könnten unsere Statistiken möglicherweise auch ganz anders aussehen? Was müsste dafür passieren? Einfach mal ein kleines Gedankenspiel, denn Zahlen habe ich dafür noch keine. Vielleicht braucht es hier erstmal einen Perspektivwechsel in der Forschung, sodass Fragen anders gestellt werden, Stichproben anders generiert werden. Am Anfang steht immer die Beobachtung und ich denke an dem Punkt sind wir gerade. Wir beobachten, dass alles möglicherweise anders ist, als es bisher angenommen wurde.
Was wäre, wenn wir neuroatypisch als ebenso „normal“ betrachten könnten, wie neurotypische Merkmale? Das würde dazu führen, dass es ein Mittelfeld gäbe mit extremen an beiden Enden und das erscheint mir sehr plausibel. Im Autismusspektrum wird schon länger in der Wissenschaft entsprechend differenziert. So gibt es zahlreiche Studien zum „high functioning autism“.
Neurodiversität
Neurodiversität beschreibt, dass Menschen unterschiedliche neurologische Basisvarianten haben können und schließt dabei sowohl die als neurotypisch oder neuroatypisch bezeichneten Menschen mit ein.
Das Konzept der Neurodiversität versteht also unter anderem Autismus, AD(H)S, Dyskalkulie, Legasthenie und Dyspraxie als eine natürliche FOrm der menschlichen Diversität, welche derselben gesellschaftlcihen Dynamik unterliege, wie andere Formen der Diversität, und wendet sich gegen eine pathologische Konnotation.
(zitiert nach Karl & Sadžakov, 2022)
Wölfe und Bären
Ein hilfreiches Bild für ein Umdenken, weg von der Pathologisierung hin zu einer neuen Normalität, haben Vernea Karl und Eduard Sadžakov entwickelt, welches sie in ihrem Buch „Von Wölfen und Bären“ beschreiben.
Bedienen wir uns der Metapher aus dem Tierreich, wird deutlich, dass wir Menschen einfach verschieden sind mit unterschiedlichen Bedürfnissen, ganz wertfrei. Innerhalb der „Spezies“ kann weiter differnziert werden, bis hin zur Individualität eines Einzelnen.
Wölfe sind Rudeltiere und fühlen sich in der Gemeinschaft sehr wohl, während Bären eher Einzelgänger*innen sind. Während die Wölfe verschiedene Aufgaben untereinander aufteilen, sind Bären für alles selbst verantwortlich. Mit dieser grundlegend anderen Lebensweise, gehen unterschiedliche Bedürfnisse einher. Wir alle sind also eher wölfisch oder bärig. Die Wölfe unter uns haben immer größere Städte gebaut, um möglichst nah und „effizient“ zusammen leben zu können. Hierfür benötigen sie gute Filter im Gehirn, um um die Fülle an Reizen auszublenden, die damit einhergehen, wenn viele Menschen sich auf relativ engem Raum aufhalten.
Ist es jetzt ein Defekt der Bären, diese Filter nicht entwickelt zu haben?
Keineswegs, denn ein sensibel wahrnehmendes Gehirn hat eben auch Vorteile. So sind es oft die bärigen Menschen, die sich in ein Problem verbeißen, bis es gelöst ist. Sie befassen sich mit den Details eines Themas. Das macht sie beispielsweise zu großartigen Wissenschaftler*innen oder Künstler*innen.
Sie entsprechen oft nicht so richtig dem Prototyp von „Rudelmitglied“. So lange sie aber etwas für die Gemeinschaft tun, wird es irgendwie akzeptiert.
(Von Wölfen und Bären, Seite 93)
Schwierig wird es für diejenigen Bären, die keinen passenden Lebensraum für sich finden, in dem sie sich entfalten können. Es fällt ihnen schwer in der wölfischen Welt zurecht zu kommen.
Wenn Wölfe und Bären zusammenleben, braucht es ein gegenseitiges Verständnis füreinander, Akzeptanz und gute Kommunikation.
Warum ist die Welt wölfisch?
Wenn es ungefähr gleich viele Wölfe und Bären gibt, warum dominieren die Wölfe dann scheinbar? Ganz einfach, sie sind besser organisiert und vernetzt. Das verschafft ihnen Vorteile, wenn es darum geht Strukturen zu schaffen und zu bestimmen.
Eine neurodiverse Welt
Könnten auch neurotypische davon profitieren, wenn wir unsere Welt und Gesellschaft etwas neurodiverser gestalten würden? Ich denke JA. Wenn wir nur zwei Faktoren in den Blick nehmen würden, nämlich den Aspekt der möglichen Reizüberflutung und weniger soziale Zwänge. Akzeptanz von Abstand und Ruhepausen.
Würde uns das nicht allen hin und wieder gut tun? Wäre es nicht schön, wenn wir gezielt regulieren könnten, wie vielen und welcher Art von Reizen wir uns aussetzen wollen? Wäre es nicht schön, wenn wir ohne Nachteile erfahren zu müssen, entscheiden könnten, ob wir uns eher in kleinen oder größeren Gruppen wohl fühlen und wie viel Zeit wir gerne alleine verbringen möchten?
Und wie kommen wir zu einer Welt für wolfige und bärige Menschen?
Indem wir es zulassen! In einem ersten Schritt müssen wir verstehen, was es heisst eher wolfig oder bärig, bzw. neurotypisch oder neuroatypisch zu sein. Wenn wir aufhören Menschen als isolierte Gruppe zu betrachten, die „anders“ sind als die Neurotypischen. Wenn wir uns Menschen als neurodivers betrachten, egal wie wir so „ticken“, dann leben wir Vielfalt. Dazu braucht es vor allem ein grundlegendes Vertändnis und Akzeptanz.
Zu mehr Verständnis kommen wir durch Kommunikation miteinander. Wir werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede feststellen, wie in jeder Beziehung zu jeder beliebigen Person. So sind wir Menschen eben.
Wir können uns darüber wundern, wenn Menschen es lieben die ganze Nacht durch eng an eng in einer Diskothek zu tanzen oder es lieben, es sich alleine mit einem Buch gemütlich zu machen. Es ist nicht nötig, dasselbe zu wollen, um die Bedürfnisse anderer zu respektieren und zu akzeptieren.
Aus dem Verständnis füreinander heraus, ergeben sich Veränderungen.
Es ist nicht nötig gegeneinander zu kämpfen. Es ist zwingend nötig miteinander zu gestalten und Lebensräume für uns alle flexibel und kreativ zu gestalten.
Auch Wölfe sind gerne mal alleine und Bären haben gerne mal Kontakt zu anderen Lebewesen.
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Von Wölfen und Bären, Hochsensibilität, Autismus, AD(H)S & Co
Verena Karl & Eduard Sadžakov
Momprox, 2022
ISBN: 9783948070250
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